ADK: The Journal of German-Armenian Society – 12/31/2013 (in German)

PRESS RELEASE
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1. DIE KONFERENZ ‘ISLAMISIERTE ARMENIER` IN ISTANBUL
Wissenschaft trifft auf Emotionen der ‘Enkelkinder`

VON ANAHIT BALAYAN

Seit Anfang November dieses Jahres berichten viele Medien der Republik
Armenien in grossem Umfang ueber die erste Konferenz ihrer Art in der
Geschichte der tuerkisch-armenischen Beziehungen. Der vorangegangene
Versuch, eine aehnliche Thematik im Rahmen einer Konferenz anzusprechen,
war gescheitert. Da die Organisatoren der Konferenz ` Mitglieder der
Hrant-Dink-Stiftung ` Befuerchtungen hatten, die weit im Voraus geplante
Veranstaltung koennte Stoerungen durch die Gegner des
konferenzuebertitelten Themas erfahren und damit erneut scheitern, wurde
dem mit peniblen Sicherheitschecks am Eingang des Hauptgebaeudes der
Konferenz an der Bosporus-Universitaet entgegengewirkt. Dies war
allerdings nicht allein der Garant dafuer, dass die Konferenz
stattfinden konnte. Auch hat die tuerkische Gesellschaft nunmehr einen
Reifepunkt erreicht, der die oeffentliche Eroerterung des Themas in der
Tuerkei endlich zulaesst.
Vor allem in den letzten Jahren ‘boomt` die tuerkische Gesellschaft
bezueglich der Nachfrage nach der eigenen Identitaet.
Veroeffentlichungen verschiedenster Erfahrungsberichte,
Interviewsammlungen und Romane, die Schicksale und die Gefuehle
tuerkischer Buerger berichten im Kern ueber den Moment des Erfahrens der
tatsaechlichen armenischen Herkunft. Diese oft emotional gefaerbten und
doch faktischen Momentaufnahmen von Identitaetswandeln lassen mehr und
mehr Leute darueber nachzudenken, wie ihre eigene Familiengeschichte
tatsaechlich geartet ist. Eine steigende Anzahl von islamischen Tuerken
findet dadurch heraus, dass deren Grossvaeter und vor allem Grossmuetter
Armenier waren. Dies fuehrt wiederum unweigerlich dazu, dass vermehrt
auch diejenigen, die jahrelang mit dem Wissen um ihre armenische
Identitaet als Krypto-Armenier gelebt haben, den Mut aufbringen, offen
genau darueber zu reden. Das ist die Situation der ‘Enkelkinder` in der
heutigen Tuerkei.
Der groesste Schritt in Richtung des oeffentlichen Gespraechs in der
tuerkischen Gesellschaft ueber das Thema wurde getan, als die Menschen
als Protest gegen die Ermordung von Hrant Dink auf die Strasse gingen
und auf ihren Plakate einhellig geschrieben stand: ‘Wie sind alle
Armenier!`. Der zweite wichtige Schritt wurde anschliessend
wahrscheinlich durch die Veroeffentlichung die autobiographische ‘Meine
Grossmutter` von Fethiye Cetin getan. Den Uebergang von der Geschichte
einer Person zu einer Sammlung von 25 weiteren aehnlichen Schicksalen
leistete die darauf folgend veroeffentlichte Interviewsammlung
‘Enkelkinder`, herausgegeben von Fethiye Cetin und Ayse Guel Altinay.
Die oben genannten Personen gestalteten mit bewegenden Reden die
Eroeffnungszeremonie der Konferenz, wenn auch die wichtigste Person, die
ihr Leben fuer die Kampf fuer die armenische Identitaet in der Tuerkei
hergeben musste, leider nur durch die Worte seiner Frau Rakel Dink
‘anwesend` sein konnte. Diese Personen gehoerten zu der Gruppe der
‘aktiven` Akteure fuer die Entwicklung und Weiterbehandlung des Themas
der armenischen Identitaet in der Tuerkei. Neben dieser ersten Gruppe
liess sich die Konferenzgesellschaft grob in drei weitere Gruppen
aufteilen: ‘Passive` (Wissenschaftler), ‘Betroffene` (Nachfahren der
Genozidueberlebenden und der islamisierten Armenier) und ‘Beobachtende`
(Journalisten und Gaeste).
Spannend und essentiell fuer die Konferenz war die Interrelation
zwischen ‘Aktiven`, ‘Passiven` und ‘Betroffenen`. Jede dieser drei
Gruppen hatte ihre eigenen Ziele und eine klare Motivation. Hosrof
Koeletavitoglu, der Praesident von ‘Malatyahayder`, ein ‘Aktiver`,
aeusserte einen Satz, der die Ziele der ‘Aktiven` bei der Organisation
der Konferenz auf den Punkt brachte: Das Ziel ist das Erreichen der
Zufriedenheit und des offenen Umgangs mit der eigenen Identitaet fuer
jede Person in der Tuerkei. Dieses Vorhaben wurde groesstenteils
tatsaechlich auch umgesetzt. Es kann behauptet werden, dass die
Konferenz zu einer Plattform wurde fuer AEusserungen der Geschichten und
der Emotionen der Zielgruppe, also der ‘Enkelkinder`, die Vertreter
unter den Sprechern hatten und einen grossen Teil des Auditoriums
ausmachten. Als Folge dessen konnte ein Dialog zwischen zwei der vier
Gruppen ` den ‘Aktiven` und den ‘Betroffenen` ` beobachtet werden, der
letztlich zum Kern der Konferenz wurde.
Mit dieser etablierten Kernkonstellation rueckte die Gruppe die
‘Passiven` mit dem Anspruch auf eine wissenschaftlich Betrachtung des
Themas leider ein wenig in den Hintergrund; jener wissenschaftliche
Horizont der Konferenz in seiner berechtigten Wichtigkeit blieb hinter
den Erwartungen zurueck. Hinzu kam, dass viele der Wissenschaftler in
ihren verbalen Beitraegen keine Analysen, sondern meistens Berichte
ueber persoenliche Erfahrungen und Treffen mit den ‘Enkelkindern`
vorgestellt hatten, was das Wissenschaftliche an sich wiederrum auf ein
persoenliches Niveau verortete. Nicht zu vergessen ist natuerlich der
Punkt, dass wissenschaftlich gesehen das vergroesserte Interesse zu dem
Thema ein ziemlich junges ist (erst seit etwa Mitte der 2000er Jahre)
und noch in den Kinderschuhen steckt. Das bedeutet, dass viele der
Wissenschaftler, die sich heutzutage damit auseinandersetzen, noch sehr
wenige fertiggestellte und damit bisher meist nur unvollstaendige
Analysen parat haben, die bei solch einer Konferenz vorgestellt haetten
werden koennen. Eine Facharbeit zu den islamisierten Armeniern, die im
Prozess der Vorbereitung steht, befindet sich theoretisch im Stadium des
persoenlichen Gespraechs mit den ‘Enkelkindern`. Dies fuehrt wiederrum
dazu, dass lediglich diese persoenlichen Erfahrungen bei der Konferenz
dargestellt wurden. Das beste Beispiel dafuer war der Vortrag der
deutschen Wissenschaftlerin Alice von Bieberstein, die ihre Arbeit
ebenfalls noch nicht zu einem endgueltigen Abschluss bringen konnte. In
sich sehr stimmig und interessant waren die Beitraege von Zeynep
Tuerkyilmaz (Researching and Conceptualizing Religious Conversion), Ayse
Guel Altinay (The Historical and Historiographical Silence on Islamized
Armenians and New Memory along the Axis of Ethnicity, Nation and
Gender), Taner Akcam (Assimilation as a Structural Element in the
Conversion of the Armenians), Vahe Tachjian (Mixed Marriage,
Prostitution, Survival), Arda Melkonian (Gender and Survival Options
during the Armenian Genocide) und Anoush Suni (Displacement and the
Production of Difference), da sie dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit
gerecht wurden.
Trotz dieser und anderer wissenschaftlicher Vortraege hat es die
Konferenz im Endeffekt nicht geschafft, den Status einer
wissenschaftlichen Konferenz in vollem Umfang zu entsprechen. Daher
wurde sie eher zu einer oeffentlichen Aussprache der Situation und zu
einer ‘Besprechung` der moeglichen Auswege und
Entwicklungsmoeglichkeiten. Spaetestens beim Diskussionsforum am letzten
Tag wurde jegliche Art von Wissenschaft vernachlaessigt. Die
Manifestation der zu erlangenden Freiheit der islamisierten Armenier in
der tuerkischen und die Anerkennung dessen in der armenischen
Gesellschaft wurde in den Mittelpunkt gerueckt, vor allem als die
Vertreter der Association of Dersim Armenians Miran Pirgic Gueltekin und
der Hemshin Association for Research and Cultural Preservation Hikmet
Akcicek zu Wort kamen. Man regte sich auf, man schrie, es wurde
gesungen, applaudiert¦ Ein eher ungewoehnliches Ende fuer eine
wissenschaftliche Konferenz.
Ein fuer viele nichtbetroffene Teilnehmer der Konferenz
unverstaendliches Detail in der Organisation war der Workshop der
‘Enkelkinder`. Dieser Workshop stellte sich als ein Treffen in
geschlossener Gesellschaft heraus, an welchem ausschliesslich
‘Enkelkinder` teilnehmen durften, nicht aber alle anderen Teilnehmer.
Zwei Tage lang wurde diskutiert und manifestiert, wie wichtig die
Integration und die Akzeptanz der islamisierten Armenier ist, wie
wichtig die Stimmen sind, die deren Geschichte erzaehlen. Doch am
dritten Tag dieses Fauxpas: Selbstabgrenzung und Angst davor, dass eine
fremde Person die eigene persoenliche Geschichte hoeren und
weitererzaehlen koennte, und die Differenzierung zwischen der eigenen
Gruppe und einer anderen, organisiert als ein offizieller Bestandteil
der Konferenz, die betonen wollte, dass Diskriminierung zu beseitigen
ist und die Gleichbehandlung der islamisierten Armenier als
gleichwertige Buerger der tuerkischen Republik und als angehoerige der
Identitaetsgruppe ‘Armenier` gefoerdert werden soll.
Eine Tatsache sollte allerdings auf keinen Fall ausser Acht gelassen
werden: Das sensible Thema wurde zum allerersten Mal im Rahmen einer
oeffentlichen Konferenz in der Tuerkei diskutiert. Die ‘Betroffenen`
waren zum ersten Mal bei einer grossen Veranstaltung, wo sie ihre
Geschichten erzaehlen, anderen zuhoeren und das Gehoerte kommentieren
konnten. Das Thema ist zudem aeusserst emotional; es ist nicht einfach,
eine so harte Geschichte Jahre lang mit sich herumzutragen. Und
natuerlich ist es sehr verstaendlich, dass diese Konferenz vor allem
fuer die ‘Enkelkinder` sehr viel bedeutet, und dass die Wichtigkeit der
Bearbeitung des Themas fuer sie nicht in der Wissenschaft, sondern in
der ‘Besprechung` liegt. Die Konferenz wurde ueber und fuer islamisierte
Armenier und deren Nachfahren organisiert. Das war das eigentliche Ziel,
verbunden mit einer gewissen beabsichtigten Oeffentlichkeitswirksamkeit.
In der Gruppe der ‘Beobachtenden` fuehlte man sich ein wenig
ausgegrenzt, als Wissenschaftler ein wenig unbefriedigt. Nichts desto
trotz darf man die Wichtigkeit des Stattfindens der Konferenz nicht aus
dem Auge verlieren. Das war ein erster, wichtiger Schritt in eine wenig
erforschte Richtung. Aller Anfang ist schwer. Ein Anfang ist nun
allerdings endlich gemacht worden.

Zur Autorin: Anahit Balayan, Absolventin des Masterstudienganges
‘Religion und Kultur` an der Humboldt Universitaet zu Berlin, schrieb
ihre Masterarbeit ueber die Identitaetsfragen der Krypto-Armenier und
deren Nachfahren in der Tuerkei, was den Anfang ihrer Forschung auf
Gebiet ist. Gegenwaertig befindet sie sich in den Vorbereitungen zu
ihrer Promotion hinsichtlich der armenischen Identitaet unter
Immigrantenfamilien aus der Tuerkei in Deutschland und weiteren
Veroeffentlichungen.

2. UEBER DAS UNSAGBARE SCHREIBEN FUER FRIEDEN UND DIALOG

VON SONGUEL KAYA-KARADAG

Die Tagung ‘Ueber das Unsagbare schreiben ` Prosa ueber Voelkermord`,
eine gemeinsame Veranstaltung der Evangelischen Akademie Berlin, der
Arbeitsgruppe Anerkennung ` Gegen Genozid, fuer Voelkerverstaendigung e.
V. (AGA) und der Deutsch-Armenischen Gesellschaft e. V. (DAG) fand vom
11.-13. Oktober in Berlin-Schwanenwerder statt.
Gegenstand der Tagung waren Voelkermorde in diversen Laendern, die
Eingang in die Literatur gefunden haben. Die Veranstaltung, zu der
Literaturwissenschaftler, Autoren und Dichter als Referenten eingeladen
worden waren, beeindruckte durch die Kompetenz, Fundus und Erfahrung der
letztgenannten. Folglich gingen sowohl die literarischen wie auch
literaturwissenschaftlichen Auftritte mit einem produktiven und
intensiven Gedankenaustausch zu Ende. Tessa Hofmann, die sich bei der
Ausarbeitung des Konzepts besonders hervorgetan hatte, gab in ihrem
abschliessenden Statement bekannt, dass die Beitraege in Buchform
erscheinen werden. Raffi Kantian von der DAG, der bei dieser
Veranstaltung ebenfalls eine aktive Rolle uebernommen hatte, wies darauf
hin, dass es notwendig sei, Genozide, die bislang eher bei politischen
Veranstaltungen thematisiert wurden, auch so bewertet werden muessten,
wie sie Eingang in literarische Texte gefunden haben. Er unterstrich,
dass eine solche Herangehensweise besonders bei Voelkermorden das
Menschenbild durch die Dichotomie Opfer-Taeter in den Vordergrund
ruecken wuerde.

Die Referate

Am ersten Tag thematisierte Dr. Michaela Prinzinger ausgehend von Elias
Venezis’ autobiografischen Roman ‘Nummer 31328’ ` darin werden seine
Erlebnisse als Gefangener der Tuerken im Jahre 1922 geschildert ` die
Deportationspolitik gegen die Griechen in Westanatolien. Venezis
schildert als Ich-Erzaehler von menschlichem Leid und menschlichen
Beziehungen, von Frauen und Muettern, die Widersprueche zwischen den
Herrschenden und dem einfachem Volk emotional und subjektiv. Die
mehrheitlich auf Beobachtungen und Reflexionen basierenden Bewertungen
fuehren zwei extreme Rollen, naemlich die des Soldaten und der von
diesen kontrollierten Kriegsgefangenen, vor Augen. Darueber hinaus
wurden in den Naturbeschreibungen Orte und die Identitaet derer, die ihr
Zuhause verlassen mussten, ebenfalls subjektiv dargestellt. Dr. Michaela
Prinzinger bereicherte ihre Darstellung mit Filmausschnitten und
visualisierte so bestimmte Abschnitte des Buches. Bei diesem ersten
Referat fiel auf, dass die Protagonisten, die Opfer einer Vertreibung
wurden, trotz des seelischen Zusammenbruch sich bemuehten am Leben zu
bleiben. Dass man dieses Bemuehen trotz der Darstellung im Buch nicht
verallgemeinern koenne, betonte Michaela Prinzinger und fuegte hinzu,
dass dies dem subjektiven Blick des Erzaehlers geschuldet sei. Dass die
Erzaehlung in der Morgendaemmerung zu Ende geht, interpretierte sie als
‘Hoffnung`.
Prof. Dr. Magdalena Marszalek von der Universitaet Potsdam ging anhand
der Buecher von zwei polnischen Autoren auf die Schoah ein. In Zofia
NaÅ?kowskas ‘Medaliony` (‘Medaillons`) aus dem Jahre 1946 wird im
Gegensatz zu Elias Venezis der Voelkermord aus dem Blickwinkel eines
Aussenstehenden geschildert und das Erlebte ohne den Gefuehlen Platz zu
lassen trocken geschildert, als wollte man nur dokumentieren. Magdalena
Marszalek wies darauf hin, dass die Autorin diese Herangehensweise
deswegen gewaehlt habe, um den Leser staerker zu beeindrucken. Sie wies
anhand der Ausschnitte, die sie aus dem Buch vortrug, darauf hin, dass
im Buch zwei Typen von Menschen dargestellt werden. Zum einen die Opfer
(das sind die Juden, die in ein KZ gebracht werden) und die anderen,
naemlich jene, die die Opfer von aussen betrachten und ihnen nicht
helfen (die oertliche polnische Bevoelkerung). Der sproede Stil, die die
Erzaehlung dominiert, koenne als Kritik an jenen Polen interpretiert
werden, die bei der Schoah geschwiegen haben, so die Referentin. Tadeusz
Borowskis Erzaehlband ‘Kamienny Å?wiat` (‘Die steinerne Welt`) sei
nihilistisch. Und wenn auch der Ich-Erzaehler denselben Namen trage wie
der Autor, so sei das Buch nicht autobiografisch (Borowski war der Reihe
nach in den KZs Auschwitz-Birkenau, Natzweiler-Dautmergen (bei Balingen)
und Dachau). 1948, ganze drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg
erschienen, sind die Protagonisten zweigeteilt: jene, die Juden sind,
und jene, die keine Juden sind. Auch hier wird mit dem Blick von
draussen das Erlebte bewertet und gezeigt, wie der Mensch sich von
seinen Werten entfernt. Uebrigens: Prof. Marszalek wies darauf hin, dass
im Zofia NaÅ?kowskas 1927 erschienenen Erzaehlband ‘Choucas` viele
Ueberlebende des Voelkermords an den Armeniern zu Wort kommen.
Der Voelkermord an den Armeniern des Jahres 1915 war das Thema von Dr.
Bernhard Malkmus’ Ausfuehrungen. Er lehrt an der Ohio State University.
Bei der vergleichenden Betrachtung von Franz Werfels ‘Die 40 Tage des
Musa Dagh` und Edgar Hilsenraths ‘Das Maerchen vom letzten Gedanken`
ging es vor allem um die Erzaehltechnik. Waehrend bei Werfel ein
allwissender Autor die historischen und politischen Aspekte des
Voelkermords an den Armeniern im Blickfeld hat, geht es nach Ansicht des
Referenten beim ‘Maerchen vom letzten Gedanken` vorrangig um das
reflexive Moment. In diesem zweiten Buch, in das die orientalische
Erzaehltechnik in Gestalt von Meddah Eingang gefunden hat, sehen wir
auch Dialoge, die die Erzaehltechnik bereichern. Inhaltlich werden in
beiden Buechern die kollektiven AEngste und Sorgen der Armenier, die
1915 Opfer eines Voelkermordes wurden, und ihre uebermenschlichen
Bemuehungen, am Leben zu bleiben, vor Augen gefuehrt.

Die Lesungen

Der Literaturwissenschaftler, Lyriker und Autor Peter Balakian aus New
York und Fethiye Cetin, die Rechtsanwaeltin im Mordfall Hrant Dink und
Autorin, waren eingeladen worden, um aus ihren Buechern vorzutragen und
die Fragen der Anwesenden zu beantworten. Beide sind Vertreter der
dritten Generation nach dem Voelkermord an den Armeniern von 1915. Trotz
ihren unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Voelkermord, waren die
Parallelen bemerkenswert. In ihren Buechern tauchen die jeweiligen
Grossmuetter auf und sie, die Zeugen von Mord und Vertreibung wurden,
hatten die Gelegenheit, dieses Wissen endlich der spaeteren Generation
weiterzugeben. Peter Balakian hatte in seinem Buch ‘Die Hunde vom
Ararat` (englischer Originaltitel ‘Black Dog of Fate`) aus der
Perspektive eines in der US-amerikanischen Diaspora lebenden Jungen und
jungen Erwachsenen all die Dinge aufgeschrieben, die er bis dahin nicht
wusste, darunter auch vieles, was der tuerkische Staat bis heute
leugnet. Seine Grossmutter war eine seiner Gewaehrspersonen. Auch wenn
es sich um ein Erinnerungsbuch handelt, benutzt Balakian als
Erzaehltechnik Romanmotive und bevorzugt eine lyrische Sprache.
Fethiye Cetin, Autorin von ‘Meine Grossmutter` (‘Anneannem`), hatte zu
Beginn ihrer Ausfuehrungen festgestellt, dass sie eigentlich keine
Schriftstellerin sei, aber um das, was sie von ihrer Grossmutter
erfahren habe, anderen mitzuteilen, gezwungen gewesen sei, dieses Buch
zu schreiben. Bekanntlich entfaltete es in der Tuerkei eine sehr grosse
Wirkung. Nicht nur jene Armenier, die gezwungen waren den Islam
anzunehmen, sondern auch all jene, die ihrer Herkunft nicht sicher
waren, begaben sich nach der Lektuere des Buches auf Spurensuche. Die
Autorin begegnet uns als Ich-Erzaehlerin und schildert in knapp
gehaltenen Passagen Erinnerungen. Literarische Aspekte stehen nicht im
Vordergrund, vielmehr geht es darum, den Leser zu informieren. Fethiye
Cetin begegnet uns unmittelbar als Autorin. Dieser Aspekt sorgt dafuer,
dass das Buch in hohem Masse realistisch und ueberzeugend wirkt. Ein
weiterer Aspekt sorgt fuer die Steigerung der Erzaehlqualitaet: Die
Verfasserin schildert – waehrend sie schreibt – ihre inneren
Widersprueche und stellt sie unverstellt dar.
Auch wenn die beiden Autoren keine gemeinsame Sprache hatten, war die
Kommunikation zwischen ihnen beiden ein Beleg dafuer, dass von
gemeinsamen Schmerzen eine einigende Kraft ausgeht. Peter Balakian lebt
in der Diaspora mit seiner armenischen Identitaet, waehrend Fethiye
Cetin ein Enkelkind ist, das zwar in der angestammten Heimat lebt,
jedoch lange Zeit nichts von seinen armenischen Wurzeln wusste. Erst als
erwachsener Mensch erfuhr sie davon und das von ihrer Grossmutter. In
dieser Hinsicht kann man bei beiden Lesungen sowohl Gemeinsamkeiten als
auch Unterschiede feststellen.

Workshops

In drei Workshops wurde intensiv ueber die Wirkung des Voelkermords auf
literarische Texte diskutiert. Einer davon wurde von Raffi Kantian
geleitet und trug den Titel ‘Wie reden? Wie schweigen? ` Armenische
Autoren zu 1915`. Dabei wurden Texte von Vahan Tekeyan, Zahrad,
Howhannes Grigoryan, Artem Harutyunyan, Schahan Schahnur und Raffi
Kebabdjian vorgetragen. Die Teilnehmer gingen in ihren
Diskussionsbeitraegen auf die historischen Bezuege in den Texten und die
Sichtweise der Autoren ein.
Dogan Akhanli, der mit seinem Roman ‘Die Richter des Juengsten Gerichts`
den Voelkermord an den Armeniern thematisierte, leitete den zweiten
Workshop. Dabei ging es darum, wie man bei literarischen Texten sich
sachlich dem Problem naehern kann. Der Autor, der in den vergangenen
Monaten mit seinem Theaterstueck ‘Annes Schweigen` auffiel, geht in
seinen Gedanken auf Identitaet, Ueberleben, schweigen um zu ueberleben
ein. Im dritten Workshop thematisierte man die Massaker der Jahre
1937/38 an den alevitischen Kurden von Dersim. Wilfried Eggers, der sich
detailliert mit diesem Thema befasst hat, leitete diesen Workshop und
informierte die Teilnehmer ueber seine Rechercheergebnisse.

Podiumsdiskussion

Am letzten Tag der Veranstaltung fand eine von Raffi Kantian moderierte
Podiumsdiskussion statt, an der Fethiye Cetin, Peter Balakian und Dogan
Akhanli teilnahmen. Zu Beginn stellte Raffi Kantian kurz Serdar Cans
‘Die Maerchen mit meiner Grossmutter` aus dem Jahre 1991 vor `
vermutlich das erste tuerkische Buch, das 1915 wenn auch in leicht
verklausulierter Form, aber ueberaus deutlich schildert – vor und fragte
die Podiumsteilnehmer, warum sie ueber den Voelkermord an den Armeniern
schreiben wollten. Auch wenn die Autoren bedingt durch ihr persoenliches
Schicksal unterschiedliche Antworten gaben, einigten sie sich alle in
dem einen Punkt, dass sie als Mensch die Notwendigkeit spuerten,
darueber zu schreiben. Ihrer Ansicht nach gab es einerseits jene, die
aus Angst schwiegen, andererseits jedoch eine staatliche, weltweit
betriebene Leugnungspolitik. Es war ein bedeutsames Zeichen, dass jene,
die Zeuge des Voelkermords wurden, den Voelkermord auf ihrer Haut
spuerten, diese Schmerzen noch zu Lebzeiten mit anderen teilten. Diese
historische Wahrheit musste – wenn auch ueber die Literatur – den
Menschen mitgeteilt werden. Folglich war fuer alle drei Autoren der
Voelkermord nicht nur Thema fuer ein Buch, sondern Gegenstand fuer
Studien und Arbeiten. So lehrt Peter Balakian an einer Universitaet der
USA u.a. ‘Genocide Studies`, Fethiye Cetin unterstuetzt als
Rechtsanwaeltin unterschiedliche Gruppierungen in der Tuerkei. Und
schliesslich Dogan Akhanli, der letztendlich wegen seines Engagements in
Sachen 1915 nicht mehr in die Tuerkei fahren kann und gegen ihn immer
noch ein Kafkaesker Prozess gefuehrt wird.
Eine junge Teilnehmerin fragte: ‘Ist es nicht moeglich, all das Erlebte
zu vergessen? Warum akzeptieren wir nicht eine historische Begebenheit
so, wie sie sich abgespielt hat, und lassen sie dort, eben in der
Geschichte?`. Peter Balakian antwortete darauf so: ‘Hitler hat vor dem
Ueberfall auf Polen gesagt: ?Wer redet denn heute noch von der
Vernichtung der Armenier?`. Damit Massaker dieser Art sich nicht
wiederholen, muessen wir darueber reden, aus ihnen Lehren ziehen. Das
ist wichtig. Sonst werden wir so etwas wieder erleben.` Fethiye Cetin
vertrat die Ansicht, dass zur Befreiung von den Traumata man darueber
sprechen muesse.

Film ` Musik ` Lyrik

Zusaetzlich zu den Referaten, den Lesungen und den Workshops gab es am
Samstagabend ein Konzert und eine Lesung. Nelly Schmalenberg, Klavier,
und Pavlos Tsavdaridis, pontische Lyra, boten armenische und griechische
Musik dar. Peter Balakian trug eines seiner Gedichte vor. Susanne
Boehringer und Bea Ehlers Kerbekian bereicherten den Abend mit
Rezitationen armenischer Gedichte.
Ein Dokumentarfilm, der die Restaurierung der Brunnen im Heimatdorf von
Fethiye Cetins Grossmutter Heranus zeigte, rundete den Abend ab.

Aus dem Tuerkischen von RAFFI KANTIAN

Zur Person: Songuel Kaya-Karadag, Jg. 1972, wurde in Gaziantep geboren.
Studierte tuerkische Sprache und Literatur in Malatya. Wegen angeblicher
politischer Betaetigung wurde sie schon als Schuelerin wiederholt
verfolgt und zuletzt zu einer Haftstrafe verurteilt, der sie sich durch
Flucht entzog. Seit 1996 in Deutschland, wo ihrem Asylantrag
stattgegeben wurde. Sie schreibt fuer die Zeitung Evrensel, seit einiger
Zeit auch fuer die ADK. 2009 absolvierte sie ihr Studium der Geschichte
und Turkistik an der Universitaet Duisburg-Essen. Seit 2010
Koordinatorin an der AWO Koeln und zusaetzlich wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Projekt ‘Muelheim 2020`.

From: A. Papazian

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