literaturkritik.de, Deutschland
19 dec 2012
Leben und Schreiben zwischen Stambul und Stromboli
Erster Band einer Werkausgabe Armin T. Wegners erschienen
Von Norbert Mecklenburg
Besprochene BĂŒcher / Literaturhinweise
Armin T. Wegner (1886-1978) ist bisher bedauerlicherweise kaum noch
mit seinem literarischen Werk, allenfalls mit seiner Biografie
prÀsent, die so markant in die Gewaltgeschichte der ersten HÀlfte des
20. Jahrhunderts verstrickt war. Sohn eines preuĂischen Beamten und
einer engagierten Frauenrechtlerin und Pazifistin, promovierter Jurist
und bereits als Schriftsteller hervorgetreten, erlebte und erlitt er
das Grauen des modernen Krieges als deutscher SanitÀtssoldat in Polen,
Istanbul, an den Dardanellen, in Bagdad und wurde erschĂŒtterter
Augenzeuge des Völkermordes an den Armeniern, den das mit dem
deutschen verbĂŒndete osmanische Reich im Schatten des Kriegsgeschehens
1915/16 bestialisch betrieb.
Nach dem Krieg erhob Wegner vielfÀltig öffentlich Anklage in dieser
Sache, engagierte sich auf der Seite der RevolutionÀre und Pazifisten,
unternahm weitere Orientreisen, etablierte sich in der Weimarer
Republik als erfolgreicher Autor und lebte mit seiner Frau, der
Schriftstellerin Lola Landau, zwischen Berlin und ihrem Landsitz in
der Mark Brandenburg. Infolge eines ebenso redlichen wie naiven
Appells an Adolf Hitler, die Judenverfolgung zu stoppen (wie naiv, ja
geradezu verblendet, das kann man in Landaus Autobiografie ?Vor dem
Vergessen` nachlesen), verhaftet, gefoltert, in KZ-Haft ĂŒberfĂŒhrt,
ging er 1934 ins Exil und lebte seit 1936 in Rom und Positano, ohne
noch gröĂere literarische Werke hervorzubringen.
Nach Kriegsende blieb er, der auf einem Schriftstellerkongress 1947
als verstorben betrauert wurde, lange ein Vergessener. 1974 und 1976
kamen dann zwei verdienstvolle Auswahlausgaben seiner Lyrik und Prosa
im Peter Hammer Verlag heraus (?FĂ€llst du, umarme auch die Erde`;
?Odyssee der Seele`), Forschungsarbeiten erschienen, und eine bis
heute erfreulich aktive Armin T. Wegner-Gesellschaft, Auftraggeber
dieser neuen Werkausgabe, wurde in Wuppertal, seinem Geburtsort,
gegrĂŒndet. Im Zusammenhang mit fortschreitender internationaler
Aufarbeitung des Armenier-Genozids (?Aghet`) trat auch die Stimme
Wegners wieder mehr hervor. 2011 wurde sein Lichtbildvortrag ?Die
Austreibung des armenischen Volkes in die WĂŒste` philologisch
mustergĂŒltig von Andreas Meier ediert, und ein instruktiver Sammelband
mit Studien und Zeugnissen kam heraus, wie Meiers Edition und die neue
Werkausgabe im Wallstein Verlag, der sich dieses Autors damit in
beachtlicher Weise annimmt.
Nun liegt ?Der Knabe HĂŒssein` als Auftakt zu dieser Ausgabe vor, die
sich deren Herausgeber, der Wuppertaler Komponist und Musiker Ulrich
Klan, der sich um den Autor sehr verdient gemacht hat, mehrbÀndig, der
Verlag, vorsichtiger, dreibÀndig denkt. Was bietet dieser erste Band,
dessen Schutzumschlag ein malerisches Foto des spÀtosmanischen
Istanbul (bei Wegner: ?Stambul`) ziert und dessen Inhalt aus vier
Teilen mit 55 StĂŒcken mehr oder weniger kurzer ErzĂ€hlprosa sowie einem
Anhang besteht? Um es gleich vorweg zu sagen: Es sind ĂŒberwiegend
bereits in den genannten AuswahlbÀnden nachgedruckte Texte, und es
sind sehr ungleichwertige Teile.
Das erste, ein unreifes, literarisch geringwertiges BĂŒchlein ?Gedichte
in Prosa` von 1910 (dessen Einleitung und erster Teil, ohne dass das
vermerkt wĂ€re, weggelassen wurde), ist eher ĂŒberflĂŒssig. Der
VierundzwanzigjĂ€hrige zeigt sich hier als groĂes sprach- und
fantasieverliebtes Kind. Der zweite Teil, sensible, anschauliche
Reise- und Kriegsaufzeichnungen von 1915/16, unter dem Titel ?Im Hause
der GlĂŒckseligkeit` 1920 erschienen (hier ist der Schlussteil ohne
Hinweis weggelassen worden), ist stofflich und sprachlich zumindest
interessant. Kriegsgeschehen und -folgen, die Schönheit der alten
Metropole zwischen Europa und Orient, kreatĂŒrliche SolidaritĂ€t mit
Armen und Kranken, Eseln und Katzen ` das mischt sich in bunter Folge.
Herausragend der Text ?Reise nach den Dardanellen`, dessen Dichte an
Ă€hnliche Abschnitte in der ?Ăsthetik des Widerstands` von Peter Weiss
erinnert.
Der dritte, mit Recht titelgebende Teil bildet mit den (diesmal
vollstĂ€ndigen) ?tĂŒrkischen Novellen` von 1921 den Höhe- und
Schwerpunkt des Bandes. Er besteht aus vier gleich intensiv
gestalteten ErzĂ€hlungen aus der osmanischen TĂŒrkei im und vor dem
Ersten Weltkrieg. Zwei portrÀtieren die ?TÀter als Opfer`, eine ein
?Opfer als TĂ€ter`. Und die letzte bietet ein Vorspiel des Genozids:
eine Episode aus den Armenier-Massakern von 1895/96, die damals
europaweit folgenlose Empörung auslösten, heute jedoch, im Schatten
des noch unvergleichlich Grauenvolleren, das zwanzig Jahre spÀter
geschah, fast ganz vergessen sind.
?Der Knabe HĂŒssein` ist ein elfjĂ€hriger tĂŒrkischer Bauernjunge, dessen
Vater im Krieg erschlagen wurde. Er wird aus Hass und Rache innerhalb
von drei Jahren, gestÀhlt im Einsatz bei Gallipoli, zu einer
mörderischen Kampfmaschine und ist zugleich ein zum Verlieben schöner
JĂŒngling. Der ganze Text ist ?die liebevollste, zĂ€rtlichste
Massenmördergeschichte, die ich kenne` (Volker Weidermann). ` ?Osman`:
Ein glĂŒcklich jungverheirateter Bauer aus Westanatolien wird zum
Kriegsdienst eingezogen, das heiĂt ins UnglĂŒck, das nun ĂŒber ihn und
seine Familie hereinbricht, ohne dass er seinen naiv-islamischen
Glauben und seine Heimatliebe verliert. Er wird Zeuge aller GrÀuel
dieses Krieges, einschlieĂlich des Armenier-Genozids. Eine
Kriegsverletzung macht ihn zum KrĂŒppel, seine Frau hat einen anderen
Mann genommen, so wird er in Istanbul Bettler, der im Traum das schöne
Paradies sieht ` eine von Empathie erfĂŒllte, tieftraurige ErzĂ€hlung.
?Der Bankier`: Onigk Karribian, ein armenischer Handwerkersohn in
Bagdad, ist aus Ehrgeiz, Hass, Machtgier und Vergeltungsdrang
angesichts der osmanischen Untaten an seinem Volk zum reichen und
skrupellosen GeschÀftsmann, fanatischen politischen WiderstandskÀmpfer
und heimlichen Spion geworden. Seine PlÀne und Machenschaften enden
jÀh, als er im Rahmen des allgemeinen Genozid-Geschehens verhaftet und
hingerichtet und seine Familie auf den Todesmarsch geschickt wird.
Diese ErzÀhlung verbindet die wenig authentische Wiedergabe einer
Deportations-AtmosphÀre im osmanischen Bagdad von 1915/16 mit der Wahl
einer untypischen, nach sehr problematischen Stereotypen modellierten
Hauptfigur.
?Der Sturm auf das Frauenbad` ` Massaker und Romanze: Aus der
Pogrom-Serie von 1895/96 hat Wegner die Handlung in der
ostanatolischen Stadt Erzurum im SpÀtherbst 1896 (richtig 1895)
spielen lassen und, sich ziemlich flĂŒchtig und willkĂŒrlich an seine
Quellen anlehnend, vor allem wohl die Anklageschrift von Johannes
Lepsius ?Armenien und Europa` (1897), mit ebenso treffenden wie
grell-grausamen Strichen vergegenwÀrtigt. Inmitten der bestialischen,
vom Provinzgouverneur Schakir Pascha (der Name vielleicht eine
Kontamination aus denen des ebenso genannten GroĂwesirs bis 1895 und
des jungtĂŒrkischen Genozid-Organisators Dr. Bahaeddin Schakir, der
1914/15 von Erzurum aus operierte) selbst organisierten und
durchgefĂŒhrten GrĂ€ueltaten an den armenischen Menschen der Stadt
vollzieht sich eine menschliche Gegengeschichte: Ausgerechnet der Sohn
dieses SchlÀchters, ein junger osmanischer Offizier mit französischer
Bildung, der sich in eine schöne armenische Witwe verliebt hat, rettet
diese vor SchĂ€ndung und Mord und flieht mit ihr ĂŒber Mardin Richtung
Mossul, auf ein neues Leben hoffend.
Diese vier ?tĂŒrkischen Novellen` Wegners stellen eine bewundernswerte
Leistung an interkultureller erzÀhlerischer Darstellungskunst dar.
Zugleich sind sie literarisierte Zeitzeugnisse eines mitfĂŒhlenden und
-leidenden Herzens aus der ersten Epoche der BrutalitĂ€ten des frĂŒhen
20. Jahrhunderts. Dem tut nur wenig Abbruch, dass der ErzÀhler ` wie
HĂŒseyin Erdem nachgewiesen hat ` ab und zu danebengreift, zum Beispiel
wenn er wiederholt von muslimischen ?Priestern` spricht, und dass er
sich nicht selten eurozentrisch herablassenden, ja rassistisch
arroganten Vorurteilen und Stereotypen verhaftet zeigt ` dem, was seit
Edward W. Said Orientalismus genannt wird. (Der hierin besonders
problematische Text ?TĂŒrkische Leute` aus ?Im Hause der
GlĂŒckseligkeit` ist in die Ausgabe nicht aufgenommen worden.)
Der vierte Teil des Bandes bĂŒndelt sehr heterogene frĂŒhe und spĂ€te,
ĂŒberwiegend autobiografisch gefĂ€rbte Prosa. Darunter verstecken sich
zwei besonders markante StĂŒcke. Das eine ist der wertvollste Text des
ganzen Bandes, die erschĂŒtternde Kurzgeschichte ?Der Knabe Atam` von
1932: noch einmal eine jetzt mit erzÀhlerischer Reife und menschlicher
Empathie dargebotene Episode aus dem Grauen des Armenier-Genozids, dem
Wegners geplantes, in geringwertigen Fragmenten ĂŒberliefertes, als
Ganzes jedoch nicht zustande gekommenes Hauptwerk ?Die Austreibung`
beziehungsweise ?Schatten vor der Sonne` gewidmet war. Im April 1915
werden die Armenier der als ?armenische Festung` legendenhaften Stadt
Seitun (Zeytun) im Taurusgebirge deportiert. Wegner erzÀhlt ebenso
anrĂŒhrend wie lakonisch die exemplarische Geschichte vom Ende eines
armenischen Winzers, BienenzĂŒchters und Schusters und seiner Familie.
Sie fliehen, von den mörderischen tĂŒrkischen Soldaten verfolgt, in die
Berge und stĂŒrzen sich gemeinsam von einem Felsen in den Tod. Der
fĂŒnfjĂ€hrige Atam bleibt allein zurĂŒck.
Das andere markante ProsastĂŒck in diesem letzten Teil bildet zugleich
sinnig den Abschluss des ganzen Bandes: ?ZwiegesprÀch mit einem
Toten`, nach 1957 entstanden und bisher unveröffentlicht. Es
verfremdet auf abgrĂŒndige Weise Trauma und Tragik des Schriftstellers
Wegner: eine erzÀhlerisch nur wenig distanzierte Selbstdarstellung,
die ebenso gezielt wie gequĂ€lt zwischen SelbstĂŒberschĂ€tzung und
SelbstentblöĂung, Selbstverleugnung und Selbstbewahrung hin- und
herpendelt und deren schwarze, bittere Ironie ein ratloses
Gegengewicht darstellt zu den eingestreuten hochgestochenen und hohlen
DeutungsansĂ€tzen fĂŒr das zeitgeschichtliche Maximalverbrechen, dessen
Opfer auch der Autor geworden war.
Im Anhang des Bandes findet man NĂŒtzliches, unter anderem einen
Lebenslauf des Autors, Publikationsnachweise (aber, wie gesagt, ohne
Hinweise auf KĂŒrzungen) und einen sensiblen Essay ĂŒber Wegners
ErzÀhlungen von Volker Weidermann, der bereits 2008 in seinem ?Buch
der verbrannten BĂŒcher` auch diesen Autor gewĂŒrdigt hatte. Was man im
Anhang leider nicht findet, sind ErlÀuterungen, die ein Leser aber oft
dringend braucht: sowohl hinsichtlich der Einordnung der einzelnen
Werke in die Kontexte von Leben, Schreiben, Zeitgeschichte als auch
hinsichtlich mancher erklĂ€rungs- oder korrekturbedĂŒrftiger Stellen.
So sind zum Beispiel in der ErzÀhlung ?Der Sturm auf das Frauenbad`
die Lokalisierung und Datierung des Geschehens auf 1896 falsch. Die
unter dem ?blutigen Sultan` AbdĂŒlhamid verĂŒbten Massaker in und um
Erzurum, von denen die ErzÀhlung handelt, fanden am 30. Oktober 1895
statt. Und ein ?Frauenbad` wurde nicht in Erzurum, sondern (am 30.
November 1895) in Kayseri gestĂŒrmt. Auch eine Passage in der ErzĂ€hlung
?Der Bankier` ĂŒber den 22. ?Tamus` (Wegner meint wohl den tĂŒrkischen `
nicht arabischen! ` Namen ?temmuz` fĂŒr den Monat Juli) im Jahre ?1315
der Hedschra` (falsch erlÀutert als 1899), an dem angeblich ?auf
Befehl des Sultans fast alle armenischen MÀnner in den StÀdten des
Reiches getötet` worden seien, ist sachlich und zeitlich völlig
irrefĂŒhrend. (Die bereits grauenvoll groĂen Massaker vor dem Genozid
von 1915 fanden 1894-96 und 1909 statt.)
Diese Beispiele lieĂen sich durch andere vermehren. Sie sollen nur
zeigen, wie wertvoll kompetente SacherlÀuterungen wÀren. Den weiteren
BĂ€nden dieser verdienstvollen Werkausgabe werden solche hoffentlich
beigegeben werden. Der erste mit seinem Schwerpunkt auf drei
ErzĂ€hlungen um die Armenier-Massaker stöĂt heute vielleicht dadurch
auf erhöhte Aufmerksamkeit, dass es mittlerweile auch viele
historiografische und andere literarische Zeugnisse dieses Geschehens
gibt. So hat kĂŒrzlich der angesehene liberale tĂŒrkische Journalist
Hasan Cemal ein beachtenswertes Buch ?Ermeni Soykñrñmñ` (?Der
Armenier-Völkermord`) veröffentlicht (Istanbul 2012). Hasan Cemal ist
Enkel jenes Cemal Pascha, der oberster Verantwortlicher genau der
Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen war, die Wegner in seiner
unvergesslichen Kurzgeschichte ?Der Knabe Atam` dargestellt hat.
Armin T. Wegner: Der Knabe HĂŒssein und andere ErzĂ€hlungen.
Herausgegeben von Volker Weidermann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
311 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311046
From: Baghdasarian