Ataturk und die Armenier

Readers Edition » Print » Atatürk und die ArmenierReaders-Edition

Atatürk und die Armenier

/atatuerk-und-die-armenier/

Artikel von Malte Olschewski vom 22.10.2006, 14:04 Uhr im Ressort Politik,
Vermischtes | 22 Comments

Die Gründe für die türkische Leugnung des Völkermordes 1915/1916. Alle
Aktionen und Abhandlungen, die sich mit dem armenischen Genozid 1915/16
befassen, rufen eine Serie von Apologien, Entgegnungen und Verleumdungen
hervor. Hierbei lässt die Geschlossenheit und das ehrwürdige Alter der
türkischen Ablehnungsfront nach ihren Ursachen suchen. Seit über neunzig
Jahren leugnet die Türkei den Völkermord an den Armeniern. Der tiefere Grund
dafür scheint in der von Kemal Atatürk forcierten Gründungsgeschichte der
türkischen Republik zu liegen.
Zum ersten Präsidenten der Republik gewählt, hat Kemal nach den
Modernisierungen auch die türkische Geschichte reformiert. Er lie� 1931 eine
?Historische Gesellschaft` gründen, die eine glorreiche Vergangenheit zu
konstruieren hatte. In diesem ?Grundriss der türkischen Geschichte` (Türk
Tarihinin Ana Hatlari) werden alle Völkerschaften, die je den Raum der neuen
Republik besiedelt hatten, zu Vorläufern oder engen Verwandten der Türken.
Die Skythen, die Hethiter, die Phryger, die griechischen Ionier und andere:
Sie alle sind zu Prototürken geworden. Die Kurden haben die Kemalisten zu
?Bergtürken` ernannt. Bei der nahezu religiösen Verehrung für Kemal Atatürk
und bei Unverletzlichkeit seiner Prinzipien ist eine Korrektur dieses
Geschichtsbildes bis heute unterblieben. Es erhebt sich auch das Mausoleum
für Atatürk auf einem Hügel in Ankara, der schon den Phrygern im 12.
Jahrhundert v. Ch. als Grabstätte gedient hatte.
Die Armenier widerlegen schon mit ihrer Existenz den kemalistischen
Gründermythos. Die Armenier sind Nachfahren der sehr alten Hochkultur von
Urartu (assyrisch für: Bergland). Urartu rund um den Berg Ararat war ein
Rivale Assyriens und bestand bis ins 5. Jahrhundert v. Ch. Aus der
Bevölkerung Urartus entwickelten sich die Armenier. König Tigran, dem
Grossen, gelang um 70 v.Ch. die Bildung eines grosses Reiches. 313 n. Ch.
nahm Armenien unter König Trdat III. als erstes Volk der Geschichte das
Christentum als Staatsreligion an. Armenien hatte sich ständig gegen Byzanz,
gegen Perser und Arabern und zuletzt gegen die Osmanen zu behaupten. Die
Turkstämme Zentrasiens hatten um 1000 n.Ch. mit einer einer Expansion in
Richtung Westen begonnen. Nach Zerfall des seldschukischen Reiches herrschte
Sultan Osman Anfang des 14. Jahrhunderts über einen kleinen Stamm in
Anatolien. Die Osmanen setzten sich gegen alle Rivalen durch. 1453 eroberten
sie Konstantinopel. 1529 standen sie vor Wien.
Um 1900 waren im Osmanischen Reich 66 Prozent des Handels und 80 Prozent von
Handwerk und Industrie in Händen der Armenier, Griechen und Aramäer. Dem
Land fehlte ein türkisches Bürgertum bzw. eine Mittelschicht. Durch
Auslöschung oder Deportation der Christen sind ungeheure Besitztümer in die
Hände von Moslems gefallen, die dann auch die kemalistische Nationalbewegung
unterstützt haben und die neue Klasse bildeten. Der Aufstieg Kemals zum
Vater der Türken (Atatürk) und die Gründung der Republik sind daher indirekt
mit der Vernichtung der Armenier und Griechen verbunden. Kemal Atatürk soll
den Genozid einmal als ?Schandtat der Vergangenheit` bezeichnet haben. Der
im türkischen Nationalen Sicherheitsrat angesiedelte ?Ausschuss zur
Bekämpfung der Völkermord-Anschuldigungen` will das Zitat nicht gelten
lassen. Vielmehr habe Kemal bei der Parlamentseröffnung am 23.4.1920
erklärt: ?Unsere Feinde haben¦ die eine Lüge darstellenden, angeblichen
Armeniergenozid erfunden.` Allerdings war das Wort ?Genozid` 1920 noch
unbekannt.
Die offizielle Version geht dahin, dass die Deportationen ?kriegsbedingte
MaÃ?nahmen gegen die Sezessionspolitik der Nichtmuslime` gewesen seien. Doch
der jungtürkische Ideologe Nazim Bey hatte, durch ein Telegramm nachweisbar,
gefordert: ?Es ist erforderlich, das armenische Volk vollständig
auszurotten.` Bis heute agitieren türkische Botschaften und Vertretungen,
aber auch in Westeuropa lebende Türken gegen Ausstellungen, Feierlichkeiten
und Schulbücher, in denen der Genozid historisch korrekt dargestellt wird.
So verlangte man von den USA und von Frankreich Korrekturen in den
Schulbüchern. Ankara protestierte gegen die Umwandlung des Potsdamer
Lepsius-Hauses in eine Gedenkstätte. Akten des Theologen mussten versteckt
werden, weil man einen Angriff türkischer Extremisten befürchtete.
Die französische Nationalversammlung hatte am 12.10. mit 106 zu 19 Stimmen
bei 577 abwesenden Abgeordneten ein Gesetz beschlossen, das die Leugnung
dieses Völkermordes unter Strafe stellt. Obwohl das Gesetz als
Vorwahlmanöver nie Rechtskraft erlangen wird, anwortete die Türkei mit einem
Bündel von Sanktionen. In einer Sondersitzung des Parlamentes wurde ein
Boykott französischer Firmen erwogen. Frank-reich soll von allen türkischen
Gro�projekten ausgeschlossen werden. Man überlegte eine Resolution zu
verabschieden, in der französische Repressionen in Algerien als ?Völkermord`
bezeichnet werden. Ebenso sollen in der Türkei keine französischen Filme
mehr gezeigt werden.
Historikerkommission und historische Tatsachen
Eine Historikerkommission zur Untersuchung des Genozids kam bisher nicht
zustande, weil [1] Armenien (Wikipedia) als Vorbedingung die Aufnahme
diplomatischer Beziehungen und die Ã-ffnung der Grenzen fordert. So können
weiterhin historische Tatsachen von der Ablehnungsfront verschleiert,
verzerrt oder uminterprätiert werden. Mit der gleichen Hartnäckigkeit
bekämpft die Türkei auch alle Bestrebungen der Kurden, eine Autonomie in der
Region Diyabakir oder einen Staat im Nordirak zu erreichen.
Als gesicherte Tatsache darf gelten: England, Frankreich und Russland haben
die nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen innerhalb des Osmanischen Reiches
unterstützt und gefördert. Die Russen setzten hierbei vor allem auf die
Armenier, die im kaukasischen Grenzgebiet und in den gro�en Städten der
Türkei siedelten. Die Hohe Pforte erkannte in den starken Minoritäten die
Ursache dies Niedergangs und begann mit MaÃ?nahmen einer Osmanisierung. Das
führte zu den Massakern von 1894 und 1896 in Sasun und in Urfa. Nach dem
Kriegsausbruch 1914 hat das jungtürkische Regime mit den Paschas Enver,
Talat und Djemal an der Spitze den schwachen Sultan zu einem Beistandspakt
mit dem deutschen Kaiser veranlasst. Die Armenier lebten damals in Russland,
in Nordostanatolien, in Enklaven und in den gro�en türkischen Städten. An
der Kaukasusfront kämpften armenische Freiwillige auf Seiten der russischen
Armee gegen die Osmanen. Auch hinter den russisch-türkischen Kampflinien
wurden Armenier aktiv. AuÃ?erdem haben die Armenier als Deserteure und Spione
wie auch durch Sabotage die türkische Kampfkraft geschwächt. Im Nordosten
des Landes würde ein Generalaufstand der Armenier drohen, hie� es damals,
obwohl die meisten wehrfähigen Männer mit Kriegsausbruch eingezogen worden
waren. Der türkische Autor Erdem Ilter beschreibt in seinem Werk: ?Ermeni ve
Rus Mezalimi` (Ankara, 1996) das Bündnis Russlands mit den Armeniern.
Das jungtürkische ?Zentralkomitee für Einheit und Fortschritt` beschloss
unter Generalsekretär Nazim Bey schon im Dezember 1914 ein geheimes Programm
zur Behandlung der christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich. Die
Armenier sollten aus Nordostanatolien in den Süden deportiert werden. Dazu
war aus Kurden und Strafgefangenen eine Sonderorganisation, die ?Teskilat i
Mahsusa`, formiert worden. Das Zentralkomitee bestimmte Fristen und
Marschrouten. Alles wurde genau vorbereitet und geplant, was für die
UNO-Definition des Genozids von Bedeutung ist. Am 24.4.1915 begann die
Aktion. In Konstantinopel wurden 2 000 Geschäftsleute und Intellektuelle
festgenommen, darunter viele Führer der armenischen Daschnaken-Partei.
Armenische Soldaten, die in der osmanischen Armee dienten, sind entwaffnet,
in Arbeitsbattaillone abgeschoben und später exekutiert worden. Die
Zivilbevölkerung wurde an mehreren Plätzen konzentriert. Die Soldateska
zwang Alte Männer, Frauen und Kinder zu Gewaltmärschen in Richtung Süden.
Hierbei ist es zu ungeheuerlichen Verbrechen gekommen. Augenzeugen wollen
gesehen haben, wie nackte Armenierinnen gekreuzigt wurden. Dem Bischof von
Diyabakir soll man glühende Hufeisen an die Fü�e genagelt haben. Tausende
wurden gefesselt in den Euphrat geworfen. Frauen wurden von den am Wegrand
lauernden Moslems vergewaltigt oder als Nebenfrauen genommen. Viele konnten
sich durch eine Bekehrung zum Islam retten. Hier gilt wie in anderen Fällen:
Der Sachbeweis ist dem Augenzeugenbericht überlegen. Die einzelnen Greuel
werden von Augenzeugen beschrieben, wobei es nur wenig Sachbeweise wie etwa
die Fotos des deutschen Sanitäters Armin Wegener gibt. Durch Sachbeweise ist
gesichert, dass die Türkei hunderttausende in den Tod hat gehen lassen. Die
Türkei führt immer als Entschuldigung Verbrechen an, die armenische und
russische Truppen an der türkischen Zivilbevölkerung begangen haben. Dies
geschah jedoch nicht zu Beginn des Krieges, sondern erst mit dem russischen
Vorsto� 1916. Diese Verbrechen sind als Rache für die Todesmärsche anzusehen
und haben nicht das Ausma� der vorherigen Deportationen durch die Türken.
Wissen der deutschen und österreichische Verbündete
Die deutschen und auch die österreichischen Verbündeten waren informiert.
Pastor Johannes Lepsius suchte Berlin mit Dokumenten und
Augenzeugenberichten zum Eingreifen zu bewegen, da die deutsche
Heeresleitung rund 800 Offiziere als Militärhilfe nach Konstantinopel
entsandt hatte und die Hohe Pforte beeinflussen konnte. Es gibt Berichte
deutscher und österreichischer Diplomaten. Johannes Lepsius hat nach dem
Krieg im Auftrag des Au�enministeriums 444 Aktenstücke über den armenischen
Genozid veröffentlicht. Diese Akten wurden dahingehend manipuliert, da zuvor
all jene Stellen eliminiert worden waren, die auf Mitwissen und Mitschuld
Deutschlands hinwiesen. Dass in den Akten gestrichen und gelöscht wurde,
bedeutet nicht, dass sie, wie die Türkei behauptet, in ihrer Gänze gefälscht
worden sind. Seit kurzem sind die Lepsius-Akten auch vollständig einsehbar.
(Wolfgang Gust: ?Der Völkermord an den Armeniern 1915/1916` Von Kampen,
2005)
Der jungtürkischer Offizier Mustafa Kemal war nach Streit mit Kriegsminister
Enver als Militärattache nach Bulgarien abgeschoben wurde. Während der
Deportationen tobte von Ende März bis Ende August 1915 mit ungeheuren
Verlusten die Schlacht um Gallipoli. Kemal war auf Druck Berlins zum
Kommandanten der Abwehrfront gegen britische, französische, australische und
neuseeländische Truppen ernannt worden. Er hat mit dem Genozid nichts zu
tun, da er noch eine unter-geordnete Rolle spielte und die ganzen Monate an
der Front gewesen war. Er wurde nach Gallipoli als ?Retter` gefeiert und zum
Pascha ernannt. Kemal diente als Kommandant an verschiedenen
Frontabschnitten. Nach der russischen Oktoberrevolution 1917 konnte sich im
Kaukasus eine kleine Republik Armenien bilden, da die Pforte und die
Boleschwiken anderweitig beschäftigt waren. Anfangs lief alles gut.
GroÃ?wesir Halil Pascha besuchte Erewan. Die armenischen Minister Ahoranian
und Chattarian kamen nach Istanbul. Wer an den wachsenden Spannungen schuld
war, ist nicht geklärt. 1920 stie� die türkische Armee unter Kazim Karabekim
im Kaukasus vor. Der Armenierstaat wurde ausgelöscht. Weitere 150 000
Armenier wurden dabei getötet. Darunter waren Zehntausende, die aus den
Deportationen hierher geflüchtet waren. Das Territorium wurde zwischen der
Türkei und Russland aufgeteilt. Am 19.11.1920 wurde die armenische
Sowjetrepublik proklamiert.
Nach dem Waffenstillstand 1918
Mit dem Waffenstillstand im Oktober 1918 und der beginnenden Besetzung durch
die Alliierten hatte Kemal die Truppen aufgerufen, sich als Guerillas in
Anatolien zu sammeln. Er gründete in Sivas ein Nationalkomitee, sodass die
Türkei nun zwei Regierungen hatte. Im Vertrag von Sevres am 10.8.1920
sollten die Osmanen riesige Gebiete verlieren. Kemal hat Sevres nicht
anerkannt und den Kampf fortgesetzt. Er hat Vorstö�e der Briten und Griechen
mehrfach zurückgeschlagen. Er hat dann auch die griechische Bevölkerung von
der Smyrnaküste in die �gäis gejagt. In Izmir weist Kemal als Denkmal mit
herrischer Geste ins Meer. Der von Ruhm umglänzte General und Chef des
Nationalkomitees hat schlieÃ?lich den Sultan abgesetzt und die Republik
gegründet. 1923 wurde im Vertrag von Lausanne die Türkei in ihren heutigen
Grenzen bestätigt.
Den Verantwortlichen für den Kriegseintritt und für die Deportationen war
schon 1919 nach britischem Druck vor Sondergerichten des Sultans der Prozess
gemacht worden. Den obersten Tätern, Talat und Enver Pascha, gelang mit
deutscher Hilfe die Flucht. Talat wurde später in Berlin auf offener Stra�e
von einem Armenier erschossen. Enver suchte gro�türkische Träume in
Zentralasien zu verwirklichen. Andere zum Tod Verurteilte flüchteten zu den
Truppen Kemals, um nach Ausrufung der Republik hohe �mter zu übernehmen.
Sükrü Kaya wurde sogar Innenminister. Bald entwickelte sich in der Türkei
ein quasireligiöser Kult um den Staatsgründer, der bis heute fortgesetzt
wird. Die alewitische Sekte feierte Kemal sogar als ?mehdi`, als Erlöser.
Atatürk starb 1938 an Leberzirrhose.

Artikel aus "Readers Edition":

Links im Artikel:
[1] Armenien:

http://www.readers-edition.de/2006/10/22
http://www.readers-edition.de
http://de.wikipedia.org/wiki/Armenien