Turkischem Freidenker Droht Haft

TURKISCHEM FREIDENKER DROHT HAFT
JAKOB NEU, FREDERIC DUBOIS

taz Nr. 7757 vom 1.9.2005, Seite 2, 92 Zeilen (Portrait), JAKOB NEU /
FREDERIC DUBOIS

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Es will ja sonst kaum jemand in der Turkei sagen, deshalb sage ich
es jetzt: Es sind 1 Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht
worden.” Fur diese Aussage im Zuricher <I class=K>Tagesanzeiger vom
vergangenen Februar drohen Orhan Pamuk jetzt drei Jahre Haft. Einem
Staatsanwalt zufolge erfullt der Krimiautor und Freidenker mit diesen
Worten den Straftatbestand der “Beleidigung des Turkentums”.

Der 53-jahrige gelernte Journalist und Architekt hat nicht zum ersten
Mal Ärger wegen seiner kritischen Äußerungen. Schon 1990 brachte
ihm sein zwar popularer, jedoch umstrittener Roman <I class=K>”Das
schwarze Buch” viel Kritik ein. In dem historischen Werk, das zum
Meilenstein seiner Karriere wurde, geht es um den Konflikt zwischen
islamischen und westlichen Kulturen.

Sein literarischer Durchbruch gelang Pamuk, der mittlerweile als einer
der beliebtesten Schriftsteller Europas gehandelt wird, 1985 mit der
Veroffentlichung von “Die weiße Festung”. Seine Romane und Novellen
wurden in mehr als 30 Sprachen ubersetzt und gewannen zahlreiche
Preise und Auszeichnungen.

Pamuk befasst sich in den meisten seiner Bucher mit Polarisierungen:
den Spannungen zwischen Orient und Okzident, der Anziehungskraft
einer islamischen Vergangenheit und den Reizen der europaischen
Moderne. Pamuk gilt als Postmodernist und wird mit dem kolumbianischen
Schriftsteller Gabriel García Marquez verglichen.

Pamuk kommt aus einer wohlhabenden Ingenieursfamilie, fuhlte sich
aber selbst zu etwas anderem berufen. “Ich liebte es zu malen
und fing schon fruh damit an”, sagte er. Nach dem Abschluss des
US-amerikanischen Robert-College in Istanbul entschied er sich auf
Vorschlag seines Vaters fur ein Architekturstudium an der Istanbuler
Technischen Uni. Nach drei Jahren schmiss er das Studium hin und
lebte fortan seine kreativen Ideen am Institut fur Journalismus aus.
Mit 22 Jahren fing er an regelmaßig zu schreiben. “Ich schreibe in
der Regel zehn Stunden am Tag”, teilte er kurzlich mit.

Pamuk hat sein ganzes Leben in Istanbul verbracht Nur . von 1985 bis
1988 unterrichtete er an der Columbia University in New York. Er ist
verheiratet und hat eine 14-jahrige Tochter.

Im Oktober soll Pamuk der Friedenspreis des deutschen Buchhandels,
dotiert mit 25.000 Euro, uberreicht werden. Der Stiftungsrat zeichnet
ihn aus, weil er sich “einem Begriff der Kultur” verpflichtet habe,
“der ganz auf Wissen und Respekt vor dem anderen grundet”. Sollte es
tatsachlich zum Gerichtsverfahren kommen, durfte das Geld wohl fur
einen guten Verteidiger draufgehen.

–Boundary_(ID_qx6FV/shIgDPmnCEGO57nQ)–

http://www.taz.de/pt/2005/09/01/a0106.nf/text.ges