Uber die Verbrechen spricht niemand

Hamburger Abendblatt

23.04.2005

“Über die Verbrechen spricht niemand”
Armenische Familie kam Ende der 60er Jahre nach Hamburg. Ihre
Vergangenheit läßt sie nicht los.

Von Anne Klesse

Ein türkischer Arbeitskollege in Hamburg erzählte Oskian Karabulut
(65) einmal von den “Heldentaten” seines Onkels in der Türkei. Der
habe 1915 während der Todesmärsche Armenier gezwungen, auf einem Feld
ein großes Loch zu graben. “Sie wurden zu fünft zusammengebunden”,
erinnerte der Kollege. Dann hätten die türkischen Soldaten
losgeschossen. Fiel einer aus der Gruppe getroffen ins Grab, riß er
die anderen mit. Zum Pausenbrot brüstete sich der Kollege: “Mein Onkel
hat die meisten Armenier getötet in seiner Kompanie.” Zum Dank gab es
einen Füllfederhalter vom Offizier.

“Der Kollege wußte nicht, daß ich Armenier bin”, sagt Oskian
Karabulut. Keiner merkt auf Anhieb, daß die Familie aus Jenfeld
armenischer Abstammung ist. Die Eltern von Oskian Karabult hießen
eigentlich Maraslian. Doch dann kamen Regierungsbeamte in ihr Haus und
zwangen ihnen einen türkischen Nachnamen auf. “Mein Vater entschied
sich für Karabulut. Das bedeutet ,Dunkle Wolke’.”

Oskians Vater, Mesrop Karabulut, lebte ein friedliches Landleben in
einem Dorf nahe der Stadt Sivas, im Osten der heutigen Türkei. Eines
Tages im Sommer 1915 kamen Soldaten und befahlen allen armenischen
Familien umzusiedeln. “Die Regierung habe einen entsprechenden Erlaß
unterzeichnet, hieß es.” Ihre Pferde durften die armenischen Bauern
nicht mitnehmen, nur Esel und Ochsen, auf denen sie nicht flüchten
konnten. Den Großvater von Oskian Karabulut zitierten die Soldaten zu
sich. “Er war Pfarrer, etwa 40 Jahre alt.” Die Soldaten wollten
wissen, wo Kirchenschätze waren und folterten ihn. Er verriet nichts,
aber er bezahlte mit dem Leben: “Die Soldaten klemmten seinen Kopf
zwischen die Räder eines Ochsenwagens und trieben die Tiere zum
Galopp.” Der achtjährige Sohn, Oskian Karabuluts Vater, mußte mit
ansehen, wie sein Vater starb.

Mehr als eine Million Armenier wurden im Osmanischen Reich in den
Jahren 1915 und 1916 umgebracht. Zeugen berichten von Todesmärschen in
die syrische Wüste. Armenische Mädchen und Frauen seien wie Sklavinnen
als Dienstmädchen oder Ehefrau ausgesucht und abgeführt wurden.
Verantwortlich war das Komitee für Einheit und Fortschritt um
Kriegsminister Enver Pascha und Innenminister Talaat Pascha – der
sich, vom türkischen Gericht nach Kriegsende zum Tode verurteilt, nach
Berlin absetzte, wo ihn 1921 ein armenischer Student erschoß.

Das damals verbündete Deutsche Reich schwieg. Die Türkei leugnet den
Genozid noch heute. “Nach dem Mord an meinem Großvater töteten die
Soldaten weitere Männer”, erzählt Oskian Karabulut. “Sie hatten
Bajonette, Säbel und Gewehre.” Sein Vater hatte Glück. “Ein
befreundeter türkischer Großbauer bestach die Wachen. Meine
Großmutter, Vater, zwei Brüder und eine Schwester konnten fliehen.”
Eine zweite Schwester sah Mesrop Karabulut sah nie wieder. Eineinhalb
Jahre versteckte sich die Familie auf dem Gutshof des Großbauern.
Immer wieder kamen Soldaten. Einmal nahmen sie einen der Brüder mit.
Er blieb verschwunden.

Als die Karabuluts 1917 endlich in ihr altes Dorf zurückkehren
konnten, war nichts wie vorher: Türken wohnten in ihren Häusern.
Alles, was ihnen lieb gewesen war, war weg, die Kirche eine Ruine. Die
direkte Gefahr war vorüber, aber Anfeindungen blieben. Oskian
Karabulut wurde geboren im Nachbardorf von Seyranus Atilmis, ebenfalls
Armenierin. Später heirateten die beiden und wanderten Ende der 60er
Jahre nach Hamburg aus.

Hier sitzen die beiden Rentner nun in ihrem zitronengelb gestrichenen
Wohnzimmer. Sie essen Kuchen, trinken Kaffee. In der Vitrine steht ein
Osterhase neben Familienfotos und Porzellan. Es wird türkisch
gesprochen. Trotzdem: “Wir sind Armenier, unser Herz gehört unserem
Volk, das ist uns wichtig.” Ihren Glauben haben die Karabuluts sich
bewahrt. Sie blieben armenisch-orthodoxe Christen, trotz vieler
Zwangskonvertierungen. Sie sagen, was sie denken, und stehen damit
weitgehend allein. “Egal ob in der Türkei oder in Deutschland – wenige
Türken sprechen über die damaligen Verbrechen”, sagt Oskian Karabuluts
Tochter Kristin (37). “Dabei vermeiden alle das Wort ,Genozid'”. Wer
es doch tut, wird angefeindet – wie der türkische Schriftsteller Orhan
Pamuk.

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